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Wo man singt, da lass dich ruhig nieder

Denn Pfadfinder haben keine schlechten Lieder – oder doch?

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Singen und musische Veranstaltungen gehören für mich neben der Fahrt zu den schönsten Aktivitäten des Pfadfinderlebens. Es ist etwas, das geblieben ist, auch, wenn ich aus beruflichen Gründen nicht mehr so aktiv an vielen Fahrten teilnehmen kann. Hier mal ein Singetreffen und da mal eine kleine Feierei in der Kneipe passt immer noch irgendwo rein und macht einfach glücklich.

Seit einiger Zeit ist da aber auch dieses ungute Gefühl in Singerunden. Nicht richtig einzuordnen, eher ein diffuses Bauchgrummeln, das sich im Laufe der Zeit immer häufiger meldet. Dann bin ich nicht mehr ganz so glücklich. Beim Singen möchte ich mich wohlfühlen und Spaß haben – mit einigen der Lieder fühle ich mich aber mittlerweile alles andere als wohl.

Meistens lasse ich mich dann mitreißen und ignoriere das schlechte Gefühl. Ich bin hier schließlich zum Entspannen und nicht, um mir Sorgen zu machen. Wenn ich mal dem Impuls nachgehe, einzelne Lieder, die mich stören, anzusprechen, ist eine häufige Antwort meiner Mitsänger, die Lieder seien doch nicht so ernst gemeint. Damit ist das Gespräch beendet. Die Feierstimmung ist wahrscheinlich auch nicht der richtige Moment, um eine Grundsatzdiskussion anzufangen.

Das ist wahrscheinlich ein bisschen so, als würde man beim Essen eine Diskussion über Tierleid und Ökologie beginnen. Da hat verständlicherweise kaum jemand Lust zu, wenn man es sich gerade mit einem leckeren Steak im Restaurant gemütlich gemacht hat. Überhaupt fallen mir viele Parallelen zwischen der Diskussion um Fleischessen und unser bündisches Liedgut auf. Jonathan Safran Foer schreibt in seinem Buch ‚Tiere essen‘ unter anderem darüber, dass eine Veränderung der Essgewohnheiten so schwierig ist, weil Mahlzeiten mit Erinnerungen verbunden sind. Sie sind ein Teil unserer kulturellen und familiären Identität und bringen uns zurück zum Sonntagsessen bei Oma, als die Welt noch in Ordnung war oder erinnern an prägende Momente unseres Lebens.

Mit unserem bündischen Liedgut ist es ähnlich. Viele von uns sind damit groß geworden und verbinden damit Freundschaften, Fahrtenerlebnisse und emotionale Momente. Viele Lieder sind – zumindest für mich – ein Stück Zuhause. Etwas, zu dem man zurückkehren kann, egal, wo man mittlerweile im Leben steht und mit dem Gefühle und Gedanken verbunden sind, die einen maßgeblich geprägt haben. Ich weiß genau: Wenn ich jetzt beschließe, bestimmte Lieder nicht mehr zu singen, dann fehlt mir etwas. Dieser Gedanke gefällt mir gar nicht. Gleichzeitig gibt es Lieder und Liedzeilen, die ich einfach nicht mehr singen mag und die man meiner Meinung nach auch nicht mehr einfach unbedacht singen sollte.

Es gibt immer mehr überbündische Singerunden und musische Veranstaltungen und wir brauchen meiner Meinung nach mehr denn je eine Auseinandersetzung über unser Liedgut. Es reicht nicht, einfach zu sagen, man müsse den historischen Kontext kennen. Bei einigen Liedern mag das ausreichen, um sie richtig einzuordnen. Bei anderen jedoch nicht. Ihre Aussagen sind überholt und transportieren zum Teil sexistische oder rassistische Vorurteile und Stereotypen. Da stellt sich mir die Frage, was wir unseren Kindern und Jugendlichen in den Gruppen damit vermitteln und wie sich erst diejenigen Mitglieder fühlen müssen, die aufgrund ihrer Herkunft von Aussagen einiger Lieder unmittelbar betroffen sind.

Ein einfaches Beispiel hierfür ist ‚In das Dorf auf bunten Wagen‘. Zigeunerromantik ist und war in der bündischen Jugend ein wiederkehrendes Motiv. Gegen die Romantik ist nichts zu sagen – auch, wenn man sich bewusst sein sollte, dass das alles nicht so richtig romantisch war und welcher Diskriminierung und Verfolgung Sinti und Roma ausgesetzt waren und sind.

„Nehmt die Wäsche von der Leine, rettet euer Federvieh!“ voll Inbrunst gesungen macht Spaß – auch 20 Mal hintereinander. Die Melodie ist eingängig und erzeugt Stimmung. Der Inhalt jedoch macht überhaupt keinen Spaß: „Bauern, in den Stall die Schweine, den Zigeunern traue nie (…).“

Ich bin überzeugt, dass der Großteil derjenigen, die das Lied gerne singen, genauso wenig wie ich diese Haltung vertritt,

Nicht nur angesichts der aktuellen Hetze gegen Flüchtlinge frage ich mich jedoch, wie wir Zeilen singen können, deren Aussage im Klartext („Sinti und Roma sind kriminell und denen ist nicht zu trauen“) als geschriebener Kommentar auf Facebook meine Hand schnell auf den Melden-Button klicken ließe. Wenn eine Person aus meinem Stamm diese Meinung vertreten würde, würde ich das niemals unkommentiert stehenlassen.

Wie kommt es nun, dass wir bei Liedern nicht hinbekommen, was uns beim gesprochenen oder geschriebenen Wort viel leichter über die Lippen geht? Aktuelle Selbstverpflichtungserklärungen aus den Bünden lassen eigentlich anderes erwarten:

„ Ich beziehe gegen sexistisches, diskriminierendes und gewalttätiges Verhalten aktiv Stellung“

(Aus der Selbstverpflichtung des VCP)

„Wir beziehen Stellung gegen sexistisches, diskriminierendes oder gewalttätiges Verhalten (verbal und körperlich) und gehen aktiv dagegen vor.“

(Aus dem von der Bundesführerversammlung für das Meißner-Lager 2013 beschlossene Verhaltenskodex)

Es ist nicht der Großteil unserer Lieder, über den ich hier schreibe, aber es sind doch viele Lieder dabei, die häufiger gesungen werden, die meines Erachtens heutzutage nicht mehr angemessen sind. ‚In das Dorf auf bunten Wagen‘ ist nur eines von vielen Beispielen.

Ich möchte sicher nicht, dass alles verkrampft und überkorrekt wird und wir jedes Wort auf die Goldwaage legen, aber ein bisschen mehr Gedanken zu dem, was man singt, sollten wir uns machen und auch die entsprechenden Konsequenzen ziehen: Sind das Aussagen, zu denen ich stehe? Sind das Aussagen, hinter denen wir als Bund oder Verband stehen? Wenn nein, warum singen wir es dann? Wegen der schönen Melodie? Weil man das ‚schon immer so gemacht hat‘?

Hier geht es nicht um die klassischen Stil-Streitfragen, ob eine Lederhose ästhetischer als eine Jeans ist oder Schwarzzelte das einzige Wahre sind, sondern um Menschen.
„Weil wir das schon immer so gemacht haben!“ war jedenfalls noch nie ein guter Grund.

Frei nach Oelb sage ich daher: Singt nicht nur, diskutiert auch!

Von:

stammt aus dem VCP Hamburg. Hier ist sie im Stamm St. Rafael aufgewachsen und gründete 2008 den Stamm Astrid Lindgren, in dem sie bis heute aktiv ist. upsi hat schon diverses im Stamm und in verschiedenen Projekten im VCP gemacht und treibt sich gerne auf überbündischen Veranstaltungen herum. Sie schreibt zu allem, was sie gerade umtreibt, für schwarzzeltvolk.de.

12 Kommentare zu Wo man singt, da lass dich ruhig nieder

  • Danke für diesen wichtigen und gut geschriebenen Beitrag! Mir geht es ganz oft ähnlich wie Dir in Singerunden und ich neige dann aber oft dazu, um die Harmonie nicht zu stören (oder weil ich nicht als Spielverderber*in dastehen will), problematische Lieder und Textstellen zwar für selbst nicht mitzusingen, diese aber auch nicht anzusprechen. Eine Diskussion über unsere Liedinhalte (die dieser Text vielleicht anstoßen könnte) halte ich aber für sehr wichtig. Vor allem, weil ich dieser Szene eigentlich auch die Kreativität zutraue Alternativen zu diskriminierenden Liedern und Texten zu finden und dabei sehr wohl den Spaß am Singen nicht zu verlieren. Wie wäre es denn zum Beispiel damit sexistische Zeilen einfach wegzulassen? Oder gewälttätige Wörter wie das N-Wort (z.B. in „Panama“) durch andere (z.B. „Menschen“) zu ersetzten? So schwer kann das ja eigentlich nicht sein. Und bitter notwendig ist es auf jeden Fall.

  • Danke.
    Genau die Gedanken zu Panama hatte ich auch schon und habe mich dann aber wegen der Länge auf eine Sache beschränkt.
    Ja, man kann sicher singen „auf den Hintertreppen sieht man Menschen steppen“.
    Wobei ich das bei Panama zumindest vom Kontext her nicht ganz so schlimm finde, da es ja aus der Swing-Jugend kam, die oppositionelle Jugendbewegung im Dritten Reich war. Trotzdem passt das Wort heute nicht mehr und ist für mich nicht singbar. Das ist dann eben die Diskussion, die wir auch bei den Pippi Langstrumpf Büchern haben…

  • In „In das Dorf“ geht es in der zweiten Strophen um negative Erwartungen an den Besuch des „Zigeunervolk(s)“, also um solche Vorurteile. In den nächsten Strophen wird aufgelöst, dass die Erwartungen unberechtigt waren und der Besuch positiv war und Leute am Ende „froh(..)“ sind.

  • Liebe upsi,

    toller Artikel, Danke dafür! :) Ja, es gibt tatsächlich einen Redebedarf, wenn es um „unser“ Liedgut geht.
    Aber ich möchte schon fast davor warnen, einen Hype um einzelne Worte zu machen und dabei den tatsächlichen Kontext außer Acht zu lassen. IMHO sind Worte zunächst einmal neutral, erst im Kontext gewinnen sie die eine oder andere Wertung. Nimm nur mal z.B. das Wort ‚Nigger‘. Ist das ein „böses“ Wort? Natürlich werden jetzt sich jetzt einige entrüsten und ‚ja klar‘ rufen. Aber warum lachen dann so viele und finden es okay, wenn Eddie Murphy einen Schwarzen lautstark mit „Yo Nigger, was geht?“ begrüßt oder John Travolta in Pulp Fiction mit den Worten „Ist Vincent Vega im Haus? Mein Nigger! Schieb deinen Arsch hierüber.“ angesprochen wird? Das Wort selbst ist bar jeder Wertung, es wird erst dann negativ, wenn ein rassistischer Trottel es sagt. Ich geb‘ zu, dass das natürlich ein extremes Beispiel ist, aber ich denke es wird klar was ich meine. ;-)
    Will sagen, bitte nicht unsere Sprache durch zuviel Besorgheit und vorauseilenden Gehorsam weichspülen, das haben uns die Amis bereits schon vorgelebt – gefällt mir nicht. George Carlin, ein prima Stand-Up Comedian, beschreibt das sehr bildlich: https://www.youtube.com/watch?v=vAj6cXHrWdQ
    Ein hiesiges Beispiel wäre die Diskussion um das leckere Zigeunerschnitzel. Soll ich das jetzt „Nicht-sesshaftes Paprikaschnitzel mit Migrationshintergrund“ nennen? ;-) Eine Zigeunerin beschrieb das mit den Worten „Das Wort Roma ist scheinheilig. Wir sind Zigeuner. Wir haben uns niemals Roma genannt. Und dieses Wort ist so gut oder so schlecht, wie man uns behandelt.“ (http://www.taz.de/!5012673/). Rassismus und alltägliche Diskriminierung hören nicht auf, nur weil man das Wort umbenennt. Deswegen ist es gut, über den Kontext zu reden und klarzustellen, dass man das Wort Zigeuner nicht im Zusammenhang mit Diebstahl etc. sehen will. Aber im Kontext von verklärter Romantik, Fahrt und Lagerfeuer mag ich das Wort Zigeuner durchaus.
    Ich werde also weiterhin die Geschichten von Ephraims Tochter vorlesen und „Negerkönig“ sagen – verbunden mit einem kleinen Exkurs warum der so heißt.. und warum Astrid Lindgren im Kontext ihrer Zeit so geschrieben hat. Das sollte mehr „gegen rechts“ vorbeugen als ein einfaches umbenennen einzelner Worte.

    Wie gesagt, trotzdem finde ich die Diskussion übers Liedgut wichtig und notwendig! Und genügend Kreativität die Melodien mit passenden Zeilen zu füllen gibt es sowieso! :)

    Lieben Gruß & be prepared, Pooky.

  • @Lars: Interessanter Aspekt. Ich finde es zwar nicht ganz so eindeutig, aber man kann es durchaus so interpretieren. Danke!

    @pooky: Danke, Das sehe ich ähnlich, man muss schon schauen, dass man nicht einfach Worte ersetzt und dann denkt, es wäre alles gut. Darum geht es mir auch in keinster Weise und auch nicht um Zensur oder Verbote.
    Es steckt ja auch mehr dahinter, nämlich, dass nach wie vor nicht alle Menschen gleich behandelt werden und das ändert man nicht, wenn man einfach die Worte ändert. Allerdings führt m.E. ein anderer Umgang damit dazu, dem mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

    Der VCP kam übrigens auf dem Kirchentag in Hamburg bei einer Singerunde in Erklärungsnot, als die Sinti- und Roma-Beauftragte vor der Jurte stand. Da ging es nicht darum, ob man jetzt Zigeuner sagt oder nicht – das ist letztenendes nur ein Symptom der Problematik – aber schon generell darum, was für Weltbilder man besingt.

    GP, upsi

  • Wie wäre es denn mit einer Umfrage, welche Lieder oder Textstellen man singen würde?
    Ich hab‘ mal sowas als groben Entwurf gebastelt, was hälst Du davon? Irgendwelche Ideen oder Liedvorschläge, wie ich das anpassen sollte?
    be prepared, Pooky. :)

    https://de.surveymonkey.com/r/WGYPZVH

  • @ Pooky: Aber wird es durch so eine Umfrage nicht eher wieder genau das „verteufeln“ von Liedern ohne dies zu Hinterfragen? Gerade dadurch, dass man nicht dazu schreibt, warum es Probleme bereitet, ist es doch irgendwie schwer nachzuvollziehen woran es fest gemacht wird, oder? Ich denke, wenn man es in Form einer Umfrage gestalten möchte, dann sollte man wenigstens die „kritischen Liedteile“ dazuschreiben…
    Auf der der anderen Seite wäre es sicher mal spannend, dazu eine Aktion in irgendeiner Form zu machen – sei es als Workshop auf einem Singetreffen oder in sonstiger Weise…

  • @ sessi: Ich hab‘ versucht, ob ich zu jedem Lied ein extra Kommentarfeld einfügen kann, aber das gibt die kostenlose Version leider nicht her. ;-) Dafür ist das Feld unten drunter etwas größer (mehr geht aber auch da leider nicht).
    Mir ging es jetzt ja auch gar nicht darum, einzelne Lieder zu „verteufeln“, sondern eher um eine Tendenz: Welche Lieder denn überhaupt als problematisch angesehen werden. Einfach nur spontan das Bauchgefühl… Eine tiefer gehende Diskussion soll das ja gar nicht ersetzen – vielleicht aber ermöglichen. :)
    Hier der Auswertungs-Link, soll ja für jeden einsehbar sein:
    https://de.surveymonkey.com/results/SM-8Z56XKW2/

  • Guter Text, Dank Dir, Upsi!
    Du hast hier meine vollste Unterstützung.
    Das Thema ist ein ständiges in der Musikpädagogik und Musiktherapie: welche Musik kann man nutzen und welche nicht, wo fängt eine Gefahr an?

    Ich denke, wir müssen den fiesen Tatsachen der gesellschaftlichen Entwicklung ins Auge sehen und das tun, was naheliegend und keine Neuigkeit ist: Texte und Worte ändern. Tut auch gar nicht weh!
    Wer würde schon auf Dauer den Zahnarzt vermeiden, wenn er arge Schmerzen hat?

    … und wenns mit etwas Poesie gemacht wird…
    Oder was glaubt ihr, wie Texte aus anderen Sprachen (z.B. Kinderlieder, Weihnachtslieder, kirchliche Lieder, Harry Potter, Lord of the und so weiter…) übersetzt wurden?
    Genau so: pragmatisch, unerschrocken und poetisch.

  • dortel sagte:

    Ich kenne Europas Zonen …
    Bei dem Kehrreim „ich bin nur ein kleiner verfluchter Zigeuner“ könnte man zwar singen „ich bin nur ein kleiner verfluchter Sinti und Roma“, aber da verhaspelt man sich immer (selber schon probiert). Aber „ich bin nur ein kleiner verfluchter Scheißpfadi“ würde endlich mal nicht andere auf’s Korn nehmen, sondern sich selbst. So sähe antidiskriministische Problemlösung aus!

  • Roma ist schon die Mehrzahl, man kann also höchstens ein*e verfluchte*r Rom oder Romni (Sing.) sein.
    Und Sinti sind eine Teilgruppe der Roma. Beides ist man sicher nicht als Einzelperson und schon gar nicht im Plural.
    [/Klugschei…-Modus aus];)

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